Richtig dehnen!

Dehnt sich das Reh, bevor der Wolf kommt? 

Wäre das Reh 10 min vor dem Flucht-Sprint über die anstehende Wolfattacke informiert, würde es sicherlich sofort mit dem Warm-up beginnen: Einlaufen, Dehnen, ein paar Sprünge aus dem Stand für mehr Explosivität. Vielleicht wäre dann die Wahrscheinlichkeit von Knöchelverletzungen und Bänder- oder Muskelzerrungen gesenkt, und damit die Überlebenschance erhöht. Ob und in welchem Umfang Rehe auf der Flucht tatsächlich Muskelverletzungen erleiden, wissen wir nicht. Allerdings ist klar, dass sie in dieser ungünstigen Situation auf Knopfdruck Höchstleistung erbringen und den sportlichen Zweikampf teilweise sogar erfolgreich abschließen. Dies könnte zum Glauben verleiten, dass die Bedeutung von Aufwärmen und Beweglichkeitstraining vielleicht überbewertet wird. Das ist jedoch – zumindest beim Menschen – nicht der Fall.

Ohne Frage ist das Aufwärmen essentiell für die körperliche und psychische Vorbereitung auf jede sportliche Aktivität. Die Vorteile des Dehnens sind allerdings umstritten. Wir erlauben uns, die Kernaussagen der neueren Wissenschaft knapp zusammenzufassen.


Das sagt die Wissenschaft

  • Dehnen und Verletzungsprophylaxe:
    Das Risiko einer Verletzung der Bänder, Sehnen oder Muskeln beim Sport kann durch ein Dehnprogramm im Rahmen des Aufwärmens leicht gesenkt werden.
  • Dehnen und Verbesserung der Beweglichkeit:
    Kurzzeitdehnen: kurzes Dehnen vor oder nach dem Training (10-20min) führt zu Effekten (Verringerung der Muskelspannung, Erhöhung der Durchblutung), die nach wenigen Minuten, maximal nach einer Stunde wieder abklingen.
    Langzeitdehnen: tägliches Dehnen über mehrere Wochen, führt zur Verbesserung der Beweglichkeit. Wie groß die Fortschritte sind, ist abhängig von Alter, Geschlecht, Körperbau sowie Dauer und Umfang des Dehnprogramms.
    Die Verbesserung der Beweglichkeit ist nicht auf eine Zunahme der Muskellänge zurückzuführen, sondern darauf, dass sich der Muskel an die regelmäßige Zugspannung gewöhnt und höhere Dehnungsspannungen toleriert.
  • Dehnen und Vermeidung von Muskelkater:
    Die Ursachen des Muskelkaters (Mikroverletzungen in den Muskelfasern) können durch Dehnen – sowohl vor als auch nach dem Training – nicht beeinflusst werden. Intensives Dehnen kann für sich alleine Muskelkater hervorrufen oder einen bestehenden Muskelkater weiter verstärken.
    EXKURS - was hingegen bei Muskelkater hilft ist: Ruhe, leichte kurzzeitige Bewegung (z.B. 20-30 min Walking), Wärme (Bäder), ausreichende Flüssigkeitsaufnahme, ausgewogene Ernährung und Geduld.

Unsere Empfehlungen für das Beweglichkeitstraining

Wenn eine Sportart große Bewegungsumfänge, explosive Schnelligkeitsleistungen und Richtungswechsel abverlangt (z.B. alle Spielsportarten), ist im Rahmen des Aufwärmens ein gewissenhaftes Dehnen anzuraten: In die Dehnposition gehen, Dehnspannung für ca. 30 Sek halten, evtl. leicht federnd. Nach dem Dehnen ist ein kurzer Antritt / Sprint sinnvoll, um den Körper in volle Aktionsbereitschaft zu versetzen.

Wer unbeweglich oder „verkürzt“ ist, sollte sein Beweglichkeitstraining auf drei Säulen setzen:

  • Bewusst aufrechte Körperhaltung einnehmen und Gelenke so oft wie möglich möglichst über den gesamten Bewegungsumfang nutzen.
  • Tägliches Dehnprogramm (Stretching) für die betreffenden Muskelgruppen: Dehnposition einnehmen, ca. 45-60 Sekunden oder länger halten, wenn möglich 2-3 Mal wiederholen.
  • Kräftigung der Gegenspieler der „verkürzten“ Muskeln. Ein ausgewogenes Kräftigungsprogramm kann Haltungsschwächen reduzieren sowie Dysbalancen und Rückenschmerzen vorbeugen. Im Zweifel ist hierfür ein Trainer zu Rate zu ziehen.

Dehnen ist Erholung und Zeit zum Genießen! Es fühlt sich gut an die Muskeln nach dem Training zu dehnen, die kurzfristige Reduzierung der Muskelspannung und nachfolgende Durchblutungssteigerung erhöhen das Wohlbefinden, man „spürt“ seinen Körper und entspannt sich. Alleine deshalb lohnt es, fünf Minuten in ein Dehnprogramm zu investieren.

Am Donnerstag (14.04.) wird beim Lederhosentraining im Englischen Garten in München ein intensives Beweglichkeitstraining mit unterschiedlichen Dehnmethoden durchgeführt.


Quellen:

Klee, A. & Wiemann, K. (2012). Dehnen - Training der Beweglichkeit. Schriftenreihe Praxisideen, Verlag K. Hofmann, Schorndorf, 2. erweiterte Auflage

Jamtvedt G, Herbert RD et al. (2010)
A pragmatic randomised trial of stretching before and after physical activity to prevent injury and soreness. Br J Sports Med. 44 (14): 1002-9